Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. November 2005
Aus der Enge. Für Trauernde und ihre Begleiter
Von Burkhard Pechmann
Seit mehr als fünfzehn Jahren lehrt Ruthmarijke Smeding (Brüssel) in Deutschland das Modell „Trauer erschließen“. Ging sie ursprünglich Ausbildungskonzepten für klinische Berufe nach, so fokussierte sich ihr Interesse dann auf die Palliativmedizin und die Trauerbegleitung. Ihr Ansatz ist aus der praktischen Arbeit mit Trauernden entstanden: Sie will aus der Engführung herausführen, dass Trauer ein psychologischer Vorgang sei, dem nur mittels Beratung oder Psychotherapie in Aufarbeitung der verschiedenen Phasen begegnet werden könne. Nach ihrer Grundeinsicht zeigt sich Trauer vielmehr als intersubjektives Geschehen, in das Menschen durch Lebensumstände hineingeraten, aus dem sie aber auch wieder heraus begleitet werden können. Deshalb steht am Anfang, „den Impulsen einer ‘normal’ trauernden Person zu folgen“ und einfach bei ihr zu bleiben.
Auch spirituell-transformierende Kräfte sollen wahr genommen werden: „‘Das Loch, in das ich fiel’ verwandelte sich auf diesem Weg mit vielen Veränderungen zu einer der Quellen, die bleiben werden.“ So kann sich Trauererfahrung in eine Kraftquelle verwandeln. Dieses „Gezeitenmodell“ haben nun Ruthmarijke Smeding und Margarete Heitkönig-Wilp in ihrem Buch vorgelegt. Es ist ein Trauer-Lese- und Lernbuch geworden.
Viele Betroffene haben in Form von Schreibwerkstätten eindrücklich an dieser ,,Tafel der Gezeiten" mitgeschrieben. Mit einem Kapitel, das Menschen oft besonders hilflos zurücklässt, beginnt das Buch:
„Wenn Kinder sterben“ und so der „Tod am Anfang des Lebens“ steht. Dann wird das Gezeitenmodell selbst entfaltet: Während die Schleusenzeit einmalig erfahren und darin die Zeit zwischen Tod und Beerdigung eines nahen Menschen durchschritten wird, erleben Menschen die Januszeit, die Labyrinthzeit und die Regenbogenzeit anders: gezeitenartig, wobei es keinen feststehenden Rhythmus gibt. Während die doppelgesichtige Januszeit am Beginn des Trauerweges ohnehin von noch unbestimmten Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen geprägt ist, kann es in der Labyrinthzeit mit ihrem neu entstehenden Weg wieder Einbrüche geben. Und auch in der Hinwendung zum lebendigen farbigen Leben in der Regenbogenzeit kann es zum resignierenden Gefühl eines Rückfalls kommen. Doch „Trittsteine“ bleiben, der „Regenbogen als Brücke“ hat weiter seinen Bestand, und an „Körben“ hat man unter Umständen auch weiter zu tragen.
Wirklichkeitsgerecht beschreibt Smeding die durchaus ja auch angefochtene christliche Existenz, wenn Menschen die Brüchigkeit des Lebens erleben müssen und dies bis hin in die eigene Leiblichkeit spüren. Sie zeigt Wege auf, wie Trauer sich nicht somatisch oder psychisch nach innen gewendet verfestigen muss, sondern nach außen gerichtet in Fluss kommen kann, so dass sich vielleicht eines Tages ein Abschluss finden lässt, „bei dem man diese Zeit in seinem Leben wie ein gelesenes Buch zuschlägt“. Ihre Gezeiten-Erfahrungen sind ebenfalls für Schleusenzeitwärter hilfreich: für Menschen, die in den Tätigkeitsfeldern von Krankheit, Notfällen, Tod, Sterben, Beerdigung oder Seelsorge arbeiten; damit sie nicht in einem funktionalen Dienst im Funktionieren erkalten, sondern in ihrer jeweiligen Profession durch berührende Trauer anderer hindurch auch wieder in den eigenen Kontakt mit den Kräften des Lebens finden können.
palliative-ch. Zeitschrift der Schweiz. Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung - 2/2005
Ihr ganzes Leben lang ist Dr. Ruthmarijke Smeding, Erziehungswissenschaftlerin und ausgebildete Hospizbegleiterin, dem Thema der Trauer und der Begleitung trauernder Menschen nachgegangen. Dabei hat sie ein überzeugendes Modell der Trauerbewältigung entwickelt, sie nennt es „Trauer erschliessen“, „Die Gezeiten der Trauer“®. Gemeinsam mit Margarete Heitkönig-Wilp veröffentlicht Smeding jetzt erstmals umfassend ihre Erfahrungen und eine Theorie, die neben psychologischen auch pädagogische Erkenntnisse mit einbezieht. Die Publikation ist nicht nur ein Theorie- sondern auch ein Lesebuch: Zahlreiche, oft sehr bewegende Geschichten und Texte zeigen wie Menschen in „Schreibwerkstätten“ mit Hilfe des Modells ihre Trauer bewältigen. Das Buch beschreibt weiter, welche Maßnahmen für Trauernde in Institutionen umgesetzt wurden, wie z.B. die Gestaltung von Abschiedsräumen oder das Entwickeln von Ritualen. Einen großen Raum nehmen die Ausführungen über das Sterben und Abschiednehmen von Kindern - allenfalls auch schon vor der Geburt - ein, es werden aber auch Erfahrungen der Trauerbegleitung in Gemeinden, der Klinik- und Notfallseelsorge oder von Bestatterinnen und Bestattern beschrieben. Die kompetenten Ausführungen im attraktiv gestalteten -allerdings etwas umfangreichen Band zeigen eindrücklich auf, wie wichtig und zukunftsweisend eine sorgsame Trauerarbeit für Betroffene und Begleitende ist und auch grundlegend zu Palliative Care sowie der Hospizarbeit gehört.