Doris Lindner. Rezension vom 28.12.2012 zu: Hospizkultur und Palliative Care im Pflegeheim.
Thema und Entstehungshintergrund
Bemühungen, Hospizkultur und Wissen im Kontext von Palliative Care auch in stationäre Einrichtungen der Altenhilfe zu integrieren und implementieren, folgten konkrete Initiativen und spezifische Projekte. Diese haben sich durch Anregungen und Beispielen aus der Hospizbewegung zum Ziel gemacht, Fragen einer guten Sterbebegleitung in den Blick zu nehmen und sich dabei an den Bedürfnissen von Bewohnerinnen und Bewohnern im Sinne der Hospizphilosophie ganzheitlich zu orientieren. Das vorliegende Modellprojekt des Dachverbandes Hospiz Österreich greift dieses Thema auf und zeigt aus unterschiedlichen Perspektiven die vielfältigen Entwicklungen von Hospiz und Palliative Care im Alten- und Pflegeheim auf. Es geht dabei um Haltung, Fähigkeiten und organisationales Lernen und damit um Prozesse und Veränderungen, die Vernetzung und Entstehung von neuem Wissen fördern. Sie können zukunftsweisend sein, wenn Bemühungen um diese Fragen und das Engagement vieler an diesen Prozessen Beteiligten öffentlich gezeigt werden. Das Buch intendiert damit zweierlei: es zeigt, dass Entwicklungsschritte gesetzt und damit bereits Entscheidendes vollbracht wurde; es weist aber im selben Atemzug auf die Notwendigkeit hin, weitere Schritte in diese Richtung zu unternehmen. In diesem Sinne kann das Buch auch als Ermutigung für Menschen und Einrichtungen gesehen werden, sich diesem Ansinnen zu widmen und sich selbst persönlich oder organisational auf dem Weg zu machen.
Herausgeber
Unter Herausgeberschaft von Dachverband Hospiz Österreich sind hier verschiedene Sichtweisen zum Thema vereint, ausgehend von der direkten Betroffenenseite bis zum entsprechenden Fachdiskurs in Wissenschaft, Praxis und Politik.
Aufbau und Inhalt
Das zentrale Ansinnen dieses Readers, möglichst viele unterschiedliche Facetten abzubilden, mündet in unterschiedlichen Kapiteln mit jeweiligen Schwerpunkten. Kapitel 1, Perspektiven, beginnt mit Betroffenenorientierungen. So spiegeln sich nicht nur Gedanken einer Bewohnerin eines Heimes in dem abgebildeten Interview, das von Sigrid Beyer geführt wurde, sondern auch die mitfühlenden Worte einer Tochter, deren Mutter im Heim gestorben ist als auch Erfahrungen ehrenamtlicher Hospizbegleiterinnen. Wir finden Weiters den Blick einer Heimleitung auf das Projekt, Erkenntnisse, was es heißt, Beziehungsarbeit aus der Sicht der Seelsorge zu leisten und abschließend der Blick auf die Gesundheitsförderung des Der Fond gesundes Österreich (FGÖ), der als Fördergeber für das Modellprojekt fungierte.
Im zweiten großen Kapitel, Hospiz- und Palliativkultur, werden unterschiedliche Ansätze einer hospizlichen und palliativen Versorgungskultur vorgestellt und diskutiert. Das Kapitel beginnt mit Ideen, Ressourcen und Weiterentwicklungen des Themas und zeigt zusammenfassend, dass das Projekt Hospiz und Palliative Care im Alten- und Pflegeheim im Sinne gelebter Mitmenschlichkeit durchaus als ein Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen ist. Pflegeheime stehen im Zeichen des Aufbruchs und Umbruchs, vieles ist schon erreicht und umgesetzt, dennoch müssen Orientierungen auch im Alltag einer Organisation ihren Niederschlag finden. Dies erfordert Bewusstseinsbildung und Schritte, die Konsequenzen für Mitarbeitende und Leitungskräfte mit sich bringen, Entwicklungslinien sind vielerorts noch zu schärfen, wie das Interview mit Ralph Grossmann zeigt. Vorgestellt werden zudem Erfahrungen, Integrations- und Umsetzungsversuche sowie Organisationsentwicklungsprozesse hin zu einer Hospizkultur dreier Modellprojekte in den Bundesländern Niederösterreich und Steiermark, die auch das Thema Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken, sowie Erfahrungen aus der Perspektive von Moderatorinnen des Curriculums Palliative Geriatrie von Marina Kojer, das in ausgewählten steirischen Altenpflegeeinrichtungen stattgefunden hat. Einblicke, wie schwierig und komplex Entscheidungen am Lebensende sein können, zeigt der Beitrag von Gerda Schmid am Beispiel der Ethischen BewohnerInnen-Besprechung in der Caritas Socialis aber auch der Beitrag von Karl Heinz Wiesinger, der den Effekt von Palliative-Care-Palliativmedizin im Pflegeheim resümiert und die medizinische hausärztliche Versorgung in den Mittelpunkt rückt. Das Kapitel endet mit einem Gespräch, das Karl Bitschnau mit dem Beirat Hospiz und Palliative Care in Alten- und Pflegeheimen geführt hat und der einführenden Frage: „Was sind ihre persönlichen Erfahrungen, die Sie mit Hospiz und Palliative Care im Pflegeheim verbinden, was sind Ihre Visionen und was, glauben Sie, kann Ihre Organisation, Ihr Ministerium dazu beitragen (S.110)?“
Kapitel 3 zeigt anhand dreier Perspektiven Grenzen für die Umsetzung von Hospiz und Palliative Care im Alten- und Pflegeheim auf: die Frage eines angemessenen Pflegeschlüssels aufgrund struktureller Gegebenheiten wie dem äußerst knappen Personaleinsatz, Gedanken zum Thema Qualitätsverbesserung und -sicherung für BewohnerInnen, Angehörige und Betreuende sowie Erfahrungen und Herausforderungen im Langzeitbereich palliativmedizinischer Versorgungsstrukturen, das nach Differenzierungen im Angebot und Ausrichtungen an den individuellen Bedürfnissen der PatientInnen verlangt.
Der daran anschließende Fachdiskurs im Kapitel 4 richtet seinen Blick auf ausgewählte Aspekte der Altenhilfe. Eine Herausforderung besonderer Art stellt der Umgang mit demenzkranken Menschen dar. Welche Grenzen hier überschritten werden, zeigen Marina Kojer und Martina Schmidl in ihren Beitrag, denn die Bedürftigkeit Demenzkranker beruht sowohl auf der dieses hohe Alter begleitenden Multimorbidität als auch in den Begleiterscheinungen der Krankheit Demenz. Die Ausführungen von Patrick Schuchter und Andreas Heller begreifen ethische Kompetenz in Einrichtungen der Altenhilfe als „tägliches Ringen um Achtung bzw. um die Ermöglichung von Achtung für das gelebte Leben“ (S. 154). Sie geben dabei zu bedenken, dass klinisch-medizinische Ethik dabei nur bedingt als Vergleichsfolie herangezogen werden kann, damit ergeben sich neue Herausforderungen hinsichtlich Kommunikation und Organisation für die Praxis von Ethik in der Altenhilfe. Dass Gender in der Betreuung und Pflege alter Frauen und Männer besondere Aufmerksamkeit bedarf, zeigen Sigrid Beyer und Elisabeth Reitinger. Nicht nur, dass das hohe Alter geprägt ist von je individuellen Lebensgeschichten, geschlechtsspezifische Muster spiegeln sich auch in bestimmten Situationen wider, gerade in lang gewachsenen Strukturen wie der Pflege. In der konkreten Beziehungssituation tragen diese wesentlich zum Verstehen bei. Brigitte Hermann und Thomas Frühwald stellen „Ideen zu einem Gesamtkonzept der abgestuften Hospiz und Palliativbetreuung in der Geriatrie“ vor, dass im Sinne der AutorInnen abgestuft dreistufig konzipiert sein sollte, hinsichtlich der Grundversorgung, der Konsiliardienste und palliativer Geriatrien.
Das abschließende fünfte Kapitel, International, blickt über den Tellerrand heimischer Bemühungen hinaus und zeigt an Implementierungsversuchen, konkreten Maßnahmen und vielen wegbereitenden Initiativen an den Beispielen Schweiz (Christoph Schmid, Beat Vogel) und Deutschland (Martin Alsheimer), dass auch hier entsprechende Entwicklungen unaufhaltsam in Gang geraten sind.
Diskussion
Bei aller Vielfalt und Verschiedenartigkeit der in diesem Band vereinten Beiträge gewinnen Leserinnen und Leser nicht nur in Bezug auf die theoretische wie praktische Arbeit im Bereich von Hospizkultur und Palliative Care im Pflegeheim an Informationen unterschiedlichstem Ausmaß, sondern bekommen darüber hinaus oder sogar vorrangig Anstöße zu eigenständigem Denken und Handeln, dass sich vielfach in der Begleitung widerspiegelt. Eine solche Begleitung, im ethischen Sinne anspruchsvoll, zeigt sich vor allem in der Haltung, mit der wir Mitmenschen begegnen und auf sie reagieren. Ein zunächst großes Ersinnen aber nach Beenden der Lektüre stellt man fest, dass dieser Anspruch wahrlich eingelöst wurde. Durch die Bündelung dieser unterschiedlichen Blickwinkel wird das oftmals reine Abstrahieren von bestimmten Inhalten anschaulicher. Das Werk gewinnt durch und vor allem mit der Perspektive der direkt Betroffenen an Alltagsnähe und Relevanz. Ausgehend von einer zunehmenden Anerkenntnis der Bedeutung von Hospiz und Palliative Care in Alten- und Pflegeheimen lässt sich eine Phase der Konsolidierung und Differenzierung erkennen, die sich auch als Auseinandersetzungen mit aktuellen gesundheitspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den verschiedenen Tendenzen im Umgang mit Sterben und Tod begreifen lässt. Auf der Basis eines gefestigten Selbstverständnisses hospizlich-palliativer Arbeit im Alten- und Pflegeheimen stehen jedoch noch weitere Entwicklungen von Konzepten zur Gestaltung und zur Reflexion zugrunde liegender Leitideen innerhalb der Institutionen an. Vor diesem Hintergrund ist die vielfach geäußerte Forderung nach einer Verbesserung der Finanzierbarkeit hospizlich-palliativer Leistungen und nach entsprechend spezialisierten Angebotsformen nur allzu verständlich.
Fazit
Es gelingt der Herausgeberschaft auf eindrucksvolle Weise, mittels eines breiten Spektrums an Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Praxis und Politik, aktuelle Erkenntnisse einer vernetzten Sterbekultur als Paradigma hospizlichen Denkens mit Fragen der praktischen Umsetzung im Kontext von Alten- und Pflegeheim zu verbinden und dadurch wertvolle Hinweise zur (Weiter-)Arbeit zu vermitteln bzw. Denkanstöße zu initiieren. Damit verdient das Werk besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Rezensentin Dr. Doris Lindner
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