Beschreibung
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die hospiz zeitschrift Ausgabe Nr. 84 (04/2019)
Daheim-Sein: Bedingungen und Konstruktionen von vielfältigen Lebensorten im Alter und im Sterben
Was macht das Daheim-Sein aus? Wer oder was ermöglicht, am Lebensende, das Daheim-Bleiben? Das Daheim-Sein meint so viel mehr als den Bezug zu einem bestimmten physischen Ort. Es hat zu tun mit dem Gefühl von Vertrautheit, der Hoffnung sich – trotz Verletzlichkeit, Angewiesenheit, Scham oder Schuldgefühlen – verstanden und angenommen zu fühlen, so sein zu dürfen, zu können, wie man ist. Es ist Metapher für einen Raum, der soziale Eingebundenheit in Beziehungen, aber auch Privatheit, Selbstbestimmung und Eigen-Gestaltung ermöglicht. Es ist auch ein realer Ort, der mit Sinneswahrnehmungen von Gerüchen, Geräuschen, Lichtverhältnissen zu tun hat, der Erinnerungen und Gefühlslagen hervorruft, der baulich, architektonisch umschlossen, abgegrenzt oder aber offen ist, hin zur Umgebung, zu den anderen, zum Leben „da draußen“, ein Raum, der – im besten Fall – ein Miteinander-Leben, ein Eingebunden-Sein nahelegt oder zumindest anbietet.
Diese – mit dem Daheim-Sein assoziierten – Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte begleiten uns ein Leben lang. Wenn schwere Krankheit, die einschränkenden Veränderungen im Alter, Verlust, Sterben, Tod und Trauer in unser Leben treten, gewinnen diese besonders an Bedeutung, indem sie nämlich radikal bedroht sind. Bedroht z. B. durch den Verlust des Zuhauses, den Einzug ins Heim, das „Eindringen“ von Pflegehilfsmitteln, Krankenhaustechniken und Sicherheitstechnologien in das Zuhause, die Angewiesenheit auf die Sorge-Kompetenz von unvertrauten Menschen, durch die Dominanz von Expertenwissen und Organisationslogiken im Sozial- und Gesundheitssystem.
In diesen brüchigen, existentiell unsicheren und oftmals sich „im Dazwischen“ – von unterschiedlichen Lebens- und Sorgeorten, von privat, intim und öffentlich, von Rückzugsbedarf und Zugehörigkeitssehnsucht, von Selbstbestimmung und Angewiesenheit – befindlichen Lebenssituationen erscheint es uns bedeutsam, genau hinzusehen und hinzuhören, in welchen Sorgeräumen und Sorgearrangements das Daheim-Sein und Daheim-Bleiben angemessen berücksichtigt, gewahrt oder aber in die Zukunft hinein neu interpretiert werden kann.
Wir haben Kolleg*innen aus unterschiedlichen Praxis- und Wissenschaftsbereichen eingeladen, diesem – eben nicht gänzlich fassbaren – Bild des Daheim-Seins mit dem näheren Beleuchten von sehr unterschiedlichen Mosaiksteinchen Konturen zu verleihen. Dabei ist der kritische Blick darauf, wie unsere gesellschaftlichen Alters- und Sorgebilder in die Gestaltung von Pflegeheimen eingeschrieben sind bzw. hier auch bestimmte, oft nicht zutreffende, negative Assoziationen hervorgerufen werden, ebenso interessant wie die Frage nach neuen Vorstellungen des „komfortablen Alterns“ oder der Blick der Architektur auf Sterberäume. Die Herausforderungen einer Sorgekultur im Quartier spielen dabei ebenso eine Rolle wie der umfassende Blick auf die Bedingungen und Bilder des Zu-Hause-Sterbens sowie deren vielschichtigen, soziologischen Ausdeutungen. Der Blick in die Zukunft wirft unweigerlich auch die Frage auf, unter welchen Bedingungen neue Technologien dazu beitragen könnten, sorgende Beziehungen zu stärken beziehungsweise welche Risiken auch in einer entkoppelten Verselbständigung technologischer Lösungsfiguren für soziale Herausforderungen liegen. Wie in einer auf Autonomie und unabhängige Lebensplanung „fixierten“ spätmodernen Gesellschaft die Dimensionen der wechselseitigen Verwiesenheit und prinzipiellen Verletzlichkeit nicht defizitär begriffen werden, sondern uns dabei helfen, Fragen nach – relationale Autonomie und Sorgebeziehungen ermöglichenden – Lebensbedingungen zu stellen, führt wieder zurück zu den Wurzeln des Anliegens der Hospizidee. Im Abschnitt „hospiz praxis“ werden diese und andere Fragen anhand aktueller Entwicklungen zu Tageshospizen noch einmal konkret verortet.
Die gesamte Ausgabe begreift sich als Versuch des Sich-Herantastens und Sich-Annäherns an ein Verständnis der Bedingungen und Konstruktionen von Orten und Räumen des Daheim-Seins im Alter und im Sterben. Die frischen und teilweise ungewohnten Blicke und Bezüge können vielleicht neue Perspektiven eröffnen, die allerdings nicht vorschnell zu Sicherheit versprechenden Antworten führen.
Wir laden Sie herzlich dazu ein, im Horizont dieses offenen Mosaiks Daheim-Sein und Daheim-Bleiben Ihre eigenen Denkspuren zu ziehen.
Ihre Julia von Hayek Ihr Klaus Wegleitner