Begegnung ohne Worte

Große Dinge sprechen sich am besten durch Schweigen aus

(polnisches Sprichwort)

Um einen anderen Menschen erreichen und mich mit ihm abstimmen zu können, muss ich erkennen können, wie er gerade gestimmt ist. Der mimische Ausdruck kann aber krankheitsbedingt verschleiert sein und sich dann nur unter Einbeziehung anderer Äußerungen dechiffrieren lassen. 

Seit über 35 Jahren bin ich in der Pflege tätig. Wenn ich resümiere, was mich bis heute an den Betten der kranken und alten Menschen gehalten hat, waren es die Situationen, in denen ich „die 3 großen Bs“ bewusst greifen konnte, die ich gerne als Basis-Interaktionen bezeichnen möchte: 


Begegnen, Berühren, Bewegen. 


Sie bilden die Grundelemente echter Beziehungskunst. Ein Blick, ein Handschlag ersetzt zehn Assessments, ein Kontakt an der Schulter oder ein verstehendes Lächeln hilft mehr als ein starkes Beruhigungsmittel. Gesichtsausdruck, Schweißbildung, Muskeltonus und Körperhaltung geben eine Fülle an Informationen. Mit welcher Anstrengung greift mein Gegenüber nach dem Glas Wasser? Was spricht seine gekrümmte Position im Bett zu mir? 

Begegnen heißt, sich und den anderen wahrzunehmen – mit allen Sinnen. Ich sehe Dich, Deine Gestik, Deine Mimik; ich höre Deine Stimme, Deinen Atem. Treffe ich auf einen sich mir anvertrauenden Menschen, sind Worte Beiwerk. Was sich wirklich zwischen uns abspielt, ist ein innerliches und äußerliches Abspüren: Wer bist Du? Was brauchst Du jetzt gerade in dieser Deiner Situation? 

Gegenseitige Berührung geht zu Herzen und hat dort ihren Ursprung. Sie ist der elementarste Zugang zum Mitmenschen, setzt allerdings auch Vertrauen voraus. Sie kann Schmerzen lindern, Nähe und Fürsorge vermitteln (Bertram 2005). Ich erlebe Deine Wärme und bedaure meine kalten Hände. Ich spüre die nervöse Feuchtigkeit Deiner Hand und die Spannung Deiner Muskulatur. Es keimt unmittelbar eine Beziehung auf Augenhöhe – jeder an seinem Platz, in seiner Situation, aber beiderseitig zugewandt, weil in diesem Moment füreinander offen und aufeinander angewiesen. Wir gehen in seelische Resonanz und erleben beiderseits in der ruhenden haltgebenden Berührung ein Gefühl der Sicherheit. 

Wie beim Singen entscheidet die bewusste Ausgestaltung der Merkmale (Stärke, Dauer, Tempo), welche Musik in der Berührung entsteht. Und es braucht eine Einstimmung. Der direkte plötzliche Hautkontakt kann erschrecken oder gar eine Grenze überschreiten. Deswegen sollten wir nicht einfach so unseren Berührungsgewohnheiten folgen, sondern fragen: Wie kann ich so berühren, dass der oder die andere in einen Dialog mit mir treten kann? 

Eine „meinende“ Berührung wird von allen Menschen – unabhängig von kulturellen oder sozialen Unterschieden – als solche erkannt und als angenehm empfunden. Trotzdem gibt es „Spezialitäten“: In Italien und Frankreich umarmt und küsst man sich zur Begrüßung, in Japan bleibt es bei der respektvollen Verbeugung ohne Körperkontakt (Böhme 2019).

Sich gemeinsam mit einem anderen Menschen zu bewegen, ist eine Aktivität, die ausreichend Raum, Zeit und Kraft fordert – und Einschwingungsvermögen, Empathie auf leiblicher Ebene. Die bewegungsempfindende Tiefensensibilität ist viel feiner ausgeprägt als unsere Außensinne. Sie ermöglicht uns, unsere Bewegungen in Einklang zu bringen. 

Diese drei pflegerischen Grundkompetenzen verbindet, dass sie zwischenmenschliche Wärme entstehen lassen, die wiederum ein Medium zur Stärkung der Selbstregulations- und Integrationskräfte und damit Grundvoraussetzung für das Wohlbefinden ist. 

Still miteinander ein paar Schritte zu gehen, Halt gebend, vertrauend, zugewandt und geistesgegenwärtig, hilft uns in einem Augenblick der Trauer und Mutlosigkeit mehr als ein noch so gut gemeinter Redeschwall. 

Auszubildende in der Pflege berichten mir zu Beginn ihres Einsatzes auf der Palliativstation oft, dass sie vor allem Angst davor haben, nicht die richtigen Worte zu finden, wenn sie auf Angehörige eines Verstorbenen oder auf Patient*innen treffen sollten, die gerade ihre Krebsdiagnose erhalten haben. Dann schildere ich ihnen meine Erfahrung: „Du musst gar nichts sagen. Versuche da zu sein, Dein Mitgefühl so zu zeigen, wie es sich in Dir regt. Da dürfen auch Tränen fließen. Menschliche Nähe braucht keine ausgefeilten Begriffe; sie entsteht in der Geste der Zugewandtheit, des Schützens und Hüllens. Sei Du selbst und lass Deine Hände sprechen, Deine Augen, Deine Haltung. Dein Herz weiß viel eher, was in dem Moment passt, als Dein Mund. Und das wirkt authentischer und hilfreicher als jeder noch so feingeschliffene Satz.“ 

Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. (Hermann Hesse) 

Sprechen wir im medizinischen Kolleg*innenkreis über unsere intuitiven Einschätzungen komplexer Patient*innensituationen, werden wir eventuell leise belächelt. Noch immer gilt die faktenbasierte, begriffskomplexe Fachsprache als objektiv, die Realität abbildend. Eher verschämt und vorsichtig trauen wir uns, über kaum Aussprechbares, aber subjektiv intensiv Erfahrenes aus der Welt der wortlosen Begegnung zu berichten, v. a. wenn wir dabei in Bereiche vorstoßen, die Worten kaum zugänglich sind, wenn wir ein Stückchen dieser faszinierenden Welt des geistig-seelischen Austauschs fassen konnten, deren Ergebnis unter Umständen wie magic nursing – zauberhafte Pflege erscheint. 

Ein Beispiel 

Eine solche Fallsituation möchte ich hier darstellen und damit zeigen, wie stärkend und entwicklungsförderlich der professionelle Einsatz dieser im Grunde urmenschlichen Kommunikationsaspekte für alle Beteiligten werden kann. 

Im Kontakt mit Frau B. kamen gezielt die Konzepte der Rhythmischen Einreibungen und der Kinaesthetics zum Einsatz. 

1. Tag – sich unvoreingenommen einlassen 

Frau B. wippt dauernd mit den Füßen, scheuert mit dem Kopf hin und her, die Haare sind am Hinterkopf schon ganz verfilzt. Sie greift im ersten Augenblick direkt nach meiner Hand, hält sie ganz fest und versucht, mich mit viel Kraft zu sich heran bzw. sich selbst zu mir hochzuziehen. Sie hebt den Kopf bei Ansprache etwas an und wendet ihn mir leicht zu. Die Beine sind mit Unterstützung nur ganz langsam und ca. bis in einen 120°-Winkel aufzustellen. 

Mit dem herantastenden Angebot einer Handeinreibung kann ich eine interessante Schlüsselerfahrung machen: Frau B. reagiert sehr gut im Sinne einer Spannungsreduktion und seelischen Beruhigung auf die wahrnehmende Berührung. Ganz offenbar liebt sie den Duft des Rosenöls, atmet ihn konzentriert und ruhig ein, lässt auch später von jeder Abwehr ab, sobald man ihr eine Duftkompresse vor die Nase hält. 

2. Tag – viabel handeln 

Ich bringe Frau B. unter Nutzung der Bettfunktionen in eine stabile Sitzposition. 

Sie wird ruhiger, erduldet die Haarpflege; Trinken und Schlucken kleinster Mengen Obstmus sind so möglich. Eine weitere Rhythmische Einreibung von Händen und Füßen mit Rosenöl wirkt offenbar angstlösend. Am Ende des Dienstes äußert Frau B. völlig überraschend: „Ich wünsche Ihnen alles Liebe und Gute.“ Mein Vorsatz für den nächsten Tag ist, sie weiter vielfältig über ihre Sinne anzusprechen und sie beim Positionswechsel v. a. über ihre Arme zu beteiligen. 

3. Tag – Zuversicht und Lösung 

7.30 Uhr: Ich treffe Frau B. völlig verquer im Bett liegend an. Sie hat sich von der Kollegin in der Nacht nicht lagern lassen. Mir kommt ein bittender Blick entgegen, keine Abwehr. Durch das Reichen meiner Hände und mit Unterstützung am oberen Rücken zieht sie sich in eine mittige Position. 

8.00 Uhr: Bei den Ausstreichungen der Unterschenkel und Füße gibt Frau B., bedingt durch die vielen kleinen Hautläsionen, kurz einen Berührungsschmerz an, wird dann aber ganz ruhig. 

10.30 Uhr: Nachdem ich Frau B. ganz mit Rosenöl eingerieben habe, statt sie einer Waschung zu unterziehen, lässt sie sich langsam und vorsichtig auf die rechte Seite bewegen, wo sie Arm und Bein auf einer gerollten Decke ablegen kann. Am Rücken wird ein Kissen als wärmender Schutzwall eingebracht. 

Frau B. liegt so – alle Erwartungen übertreffend – ganz ruhig und stabil, kuschelt sich mit dem Kopf zur Decke hin; die Spannung weicht sichtlich. Haarpflege, Rückeneinreibung und Abführmaßnahme (seit 5 Tagen kein Stuhlgang) sind gut durchzuführen. 

12.00 Uhr: Frau B. hat sich alleine zurückgedreht, in Rückenlage begeben. Zur Positionierung des linken stark nässenden und schmerzhaften Arms bewege ich diesen mit dem ihn umhüllenden Safetex, einer aufsaugenden Unterlage – quasi im „Tuchkran“. Frau B. erwidert keinerlei Gegenspannung. 

Frau B. verstirbt am Abend.

Die Leseprobe stammt aus dem Beitrag „Nonverbale Kommunikation – vielsagende Stille“ von Hermann Glaser im vor kurzem erschienen Buch „Kommunizieren in Palliative Care und Hospizarbeit” .

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