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Kerstin Kremeike. Rezension vom 10.01.2013 zu: Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland
Thema
Anhand der Geschichten von Pionierinnen und Pionieren soll die Entwicklung der Hospizbewegung in Deutschland nachgezeichnet werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit entsteht damit mosaikhaft das Gesamtbild der Geschichte eines kulturellen Wandels.
Herausgeberteam
Andreas Heller ist Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF-Fakultät der Universität Klagenfurt, Wien und Graz. Sabine Pleschberger ist Professorin und Vorständin des Instituts für Pflege- und Versorgungsforschung an der Gesundheitsuniversität UMIT Hall i.T. in Wien. Michaela Fink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Reimer Gronemeyer ist Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf Ergebnissen des Forschungsprojekts HospizGeschichteZukunft (2006 – 2008), das nach dem Vorbild des International Observatory on End of Life Care an der Lancaster University, England durchgeführt wurde. Zielsetzung des Projekts war die Aufzeichnung der Geschichte der Hospizbewegung. Dies geschah anhand von 73 Interviews mit 76 PionierInnen, GründerInnen und MitinitiatorInnen in Deutschland nach dem Ansatz der Oral History. Die Darstellung der Geschichte der Hospizbewegung mittels individueller Porträts soll dem Umstand Rechnung tragen, dass es nicht die eine, linear und einfach zu erzählende Geschichte in Deutschland gibt. Sie soll als Grundlage für die Weiterentwicklung von Hospizarbeit und Palliative Care dienen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus zehn Kapiteln, die sich thematisch gliedern und für die Entwicklung der Hospizbewegung bedeutende Aspekte herausstellen.
1. Die Geschichte der deutschen Hospizbewegung: Eine Geschichte von Geschichten. Im ersten Kapitel werden Anliegen, Hintergrund und methodisches Vorgehen des Forschungsprojekts dargstellt. Darüber hinaus gibt es einen kurzen Ausblick darauf, was den Leser in vorliegendem Buch erwartet.
2. Internationale Einflüsse – Die Hospizidee und ihre Pionierinnen. Nach einer Abgrenzung der modernen Hospizbewegung von den frühen Hospizen wird die Entstehung der modernen Medizin als Ausgangspunkt der Hospizbewegung benannt. Die Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die Heilbaren wird dabei als ursächlich angeführt für einen zunehmenden Bedarf an Alternativen in der Versorgung chronisch kranker, alter, sterbender und armer Menschen sowie für die Gründung neuer Hospize. Bereits hier unterstreichen erste Zitate aus den Interviews die Ausführungen, in diesem Fall die Bedeutung der internationalen Entwicklungen. In gesonderten Unterkapiteln wird auf die einflussreichen Pionierinnen Cicely Saunders und Elisabeth Kübler-Ross Bezug genommen, in dem Originalzitate sowie zitierte Äusserungen Dritter das Leben und Wirken der beiden Frauen beleuchten. Daneben werden weitere Einflüsse auf die deutsche Entwicklung der Hospizbewegung angeführt, wie die Filme „Noch 16 Tage. Eine Sterbeklinik in London“ und „Die letzte Station“, Auslandsaufenthalte deutscher Pionierinnen und Pioniere oder Publikationen. Darüber hinaus wird mit vielen Belegen aus der Fachliteratur sowie anhand von Zitaten der interviewten PionierInnen veranschaulicht, wie die Hospizbewegung implizit die Traumata der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration aufnahm.
3. Stimmungslage für Hospiz in den 70er Jahren. Das dritte Kapitel beleuchtet die Institutionalisierung des Sterbens in der modernen Medizin, wissenschaftliche Annäherungen, den Einfluss der Krankenhausseelsorge sowie die Bedeutung der aufkommenden Euthanasiebewegung für die Entwicklungen. Widerstände gegen die Hospizbewegung werden hier ebenso thematisiert wie die „Reife der Zeit“ für die Bewegung, die sich aus dem Geflecht historischer Wurzeln und sozialer Stimmungslage bedingte und sich damit maßgeblich von den Entwicklungen etwa in Großbritannien unterscheidet.
4. Motive und Beweggründe der Pionierinnen und Pioniere. Die eigene Betroffenheit der interviewten Pioniere und Pionierinnen von Sterben und Tod als Kernelement des Hospizengagements werden ausgeführt, die zusammen mit der Faszination von Ideen und Ideenträgern sowie verschiedenen anderen Auslösern ein breites Spektrum an Motivationslagen bilden. Diese lassen sich laut der Autoren nicht in die gängigen Kategorien von extrinsisch und intrinsisch unterscheiden.
5. Die ersten Hospizinitiativen der 80er Jahre. Initiale Initiativen der stationären und ambulanten Hospizarbeit (letzeres auch in einem gesonderten Kapitel zur Entwicklung in Ostdeutschland), die Entstehung der ersten Palliativstationen und ausdifferenzierter Hospizangebote, Bildungs- und Beratungsangebote sowie Aktivitäten zur finanziellen Förderung der Hospizarbeit werden dargestellt.
6. Überregionale Initiativen. Omega – Mit dem Sterben leben e.V., die internationale Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbeistand (IGSL), erste Hospizorganisationen auf Landesebene sowie Wegbereiter für eine bundesweite Dachorganisation finden in diesem Kapitel genauso Beachtung wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz e.V. (BAG), die Deutsche Stiftung Hospiz und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin.
7. Aids und Hospiz – eine eigene Geschichte. Als gesondertes Kapitel der Hospizbewegung wird die Versorgung aidskranker Menschen in diesem Teil des Buches behandelt. Anhand markanter Unterschiede zur allgemeinen Hospizbewegung werden dabei charakteristische Eigenheiten der Bewegung als Ganzes wie auch der Versorgung aidskranker – besonders homosexueller Männer – sowie der Umgang mit HIV zu Beginn des Auftretens dieser Erkrankung deutlich gemacht.
8. Das Hospizkonzept in Deutschland. Die Kernelemente der Hospizidee werden hier dargestellt. Daneben wird auf das Verhältnis von Hospizarbeit und Trauerbegleitung eingegangen, die Hospizbewegung als institutionalisierte Bürgerbewegung thematisiert, das Verhältnis zwischen Hospizbewegung und Palliativmedizin beleuchtet sowie die Zielgruppen der Hospizversorgung betrachtet.
9. Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland im ausgewählten Überblick. Tabellarisch werden in diesem Abschnitt besondere Ereignisse der deutschen Hospizbewegung chronologisch in Stichpunkten aufgeführt.
10. Warum wir heute in Deutschland anders über Sterben Tod und Trauer reden. Im letzten Teil des Buches wird noch einmal hervorgehoben, dass trotz der internationalen Einflüsse auf die deutsche Hospizbewegung keine einfache Übersetzung der Idee stattfand, sondern die Hospizarbeit in Deutschland ein komplexes Mosaik von Initiativen, Projekten u.v.a. darstellt. Die Hospizbewegung wird als soziale Bewegung beschrieben, wobei die weitgehende Ausblendung von Genderthemen dabei ebenso festgestellt wird wie die mangelnde Beachtung der Lehren aus dem Umgang mit der Versorgung am Lebensende im Kontext von Aids und der Schwulenbewegung. Nichts desto trotz markiere die Geschichte der Hospizbewegung die Geburt eines neuen soziokulturellen Diskurses über das Sterben in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Entwicklungen der deutschen Hospizarbeit fanden föderal statt und auch der Umgang mit den etablierten Wissenschaften und der Wissenschaftlichkeit in Deutschland wird als spezifisch angeführt; so wurden innerhalb der deutschen Hospizbewegung weder eine Akademisierung noch eine Forschungsstrategie verfolgt.
Der Band schließt mit Fragwürdigem künftiger Hospizarbeit, zu dem folgende Aspekte gezählt werden: Die Inklusion unabhängig vom sozialen und kulturellen Hintergrund, Geschlechterunterschiede bei der Wahl des Aufenthaltsortes am Lebensende, der Umgang mit Andersartigem und Andersdenkenden, dem Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und professionellen Angeboten sowie dem sinnvollen Maß an Professionalisierung und Verwissenschaftlichung.
Diskussion
Umfangreiche Zitate aus den Interviews mit PionierInnen der Hospizbewegung zeigen anschaulich die Entwicklung der deutschen Hospizbewegung auf. Die biografischen Zusammenhänge geben spannende Einblicke in persönliches Engagement im Kontext einer bedeutenden sozialen Bewegung. Dabei werden sowohl Einzelaspekte der Bewegung als auch die gesamte Entwicklung gut nachvollziehbar und nah am Interviewmaterial dargelegt. Somit ist das Buch sowohl für mit der Materie vertraute als auch für alle anderen interessierten Leser von Wert.
Fazit
Ein gut zu lesendes informatives Buch, in dem anhand vieler Zitate von PionierInnen die Geschichte der Hospizbewegung nachgezeigt wird sowie interessante Einzelaspekte der Bewegung betrachtet werden. Der biografische Bezug macht die Lektüre kurzweilig und es werden relevante Fragen für die Zukunft der Hospizarbeit in Deutschland formuliert.
Rezensentin
Dr. rer. medic. Kerstin Kremeike
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Zentrum für Palliativmedizin Universitätsklinikum Köln (AöR)
https://www.socialnet.de/rezensionen/13985.php