Susanne Burkhardt, Hospiz Landesarbeitsgemeinschaft Saarland e.V.
Märchen im Hospiz, das macht schon das Vorwort des Osnabrücker Hospizvereins deutlich, sind kein Allheilmittel in der Sterbegleitung und Zurückhaltung ist geboten. Märchen nach einer vermeintlich hospizlichen Qualität auszuwählen und mit gutgemeinter Absicht zu erzählen, das wäre gänzlich verfehlt und ginge am Potential des Märchens vorbei. Das Ende September im Hospizverlag erschienene Buch „Märchen im Hospiz“ von Heinrich Dickerhoff hat zwei inhaltliche Schwerpunkte. Im Teil A wird eine Anthologie von fünfzehn Märchen präsentiert. Jedes Märchen ist mit einem Scherenschnitt von Eva-Maria Wowy liebevoll illustriert. Im Anschluss an jedes Märchen findet sich eine Interpretation von einer in der Hospiz- und Palliativlandschaft engagierten Persönlichkeit. Die Märchen sind in drei Themenfelder gegliedert. Unter der Überschrift „Was Märchen vom Menschenleben wissen“ versammelt Dickerhoff Märchen in deren Zentrum die Suche nach dem eigenen Lebensweges steht. Vertrauen und Anvertrauen in neuen Situationen führen zu Glück und Reichtum. Im zweiten Kapitel „Märchenhafte Wege zum glücklichen Leben“ gelingt es den Protagonisten immer wieder das Beste aus ihrer schwierigen Situation zu machen und wirkliches Glück zu finden. Im dritten Kapitel kreisen die Märchen inhaltlich um die Themen Tod und Trauer. Die angefügten Interpretationen machen die mögliche Resonanz des Leser anschaulich. Vielfach spürbar wird hier wie das Märchen im Leser nachklingt. Mich beeindruckt die Interpretation des Märchens „Die drei Raben“ als Trauerweg eines Kindes. Die Deutung von Elisabeth Volk, selbst trauende Mutter, ist authentisch, von ergreifender Empathie und ein Höhepunkt des Buches. Die Deutungen erleichtern dem Ungeübten den Zugang zu den Märchen, auch dann, wenn man mit dem Hineingedeuteten gerade nicht einverstanden ist.
Teil B beinhaltet eine kleine Märchenkunde. In fünf Kapiteln wird auf die Besonderheiten des Märchens eingegangen: auf ihre Weisheit, ihre Sprache, ihren Klang, wie man über Märchen ins Gespräch kommt und wie Märchen bei Trauernden und Begleitern eingesetzt werden können. Im ersten Kapitel „Die Weisheit der Märchen“ schildert Dickerhoff eindrucksvoll wie uralte, universelle Lebenserfahrung verschlüsselt und verdichtet, sozusagen seitenverkehrt, wie aus einem Spiegel aus den Märchenbildern spricht. Märchen erzählen im Wesentlichen von zwei Wünschen der Menschen. Der erste große Wunsch erzählt von der Hoffnung oder dem Bedürfnis den eigenen Lebensweg zu finden. Die Welt ist ein Labyrinth und der Mensch wandert auf gewundenen Pfaden. Folge deinem Herzen, finde ins Herz der Welt, finde zu dir selbst, scheinen die Märchen sagen zu wollen. Der zweite Wunsch dem Märchen Ausdruck geben, ist der, dass die Liebe wahrer sein möge als der Tod. Liebe und Tod stehen im Märchen einander gegenüber. Liebe kann die Endgültigkeit des Todes und das Absinken des Geliebten in die Bedeutungslosigkeit nicht akzeptieren. In diesem Sinne tragen Märchen die Grundbotschaft: „Traue deiner Sehnsucht mehr als deiner Verzweiflung“.
Für mich ist es ein sehr gelungenes Buch. Nicht nur weil es die eigene Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod bereichert, sondern auch, weil es deutlich macht, dass die Haltung des Märchenerzählers in ihrer ganzen Zurücknahme der immer wieder gesuchten hospizlichen Haltung so nahe ist.
Cornelia Kricheldorff. Rezension vom 10.08.2009 zu: Märchen im Hospiz. Erdenkinder, Waisenkinder, Königskinder
Thema
Märchen als Ausdruck verdichteter Lebenserfahrung und kultureller Überlieferung stellen in der Hospizarbeit einen besonderen Zugang her, das Leben über Sinnbilder zu erfahren und zu begreifen. Über die Inhalte von Märchen in einen gedanklichen Austausch zu kommen und dadurch Begegnung zu schaffen, kann ein wichtiges Element in der Sterbe- und Trauerbegleitung sein. Es geht dabei weniger um die zentralen Aussagen und Inhalte der einzelnen Märchen an sich, als vielmehr um die darin enthaltene Bildhaftigkeit und ihre besondere Sprache. Die in den Märchen enthaltene Weisheit liefert Anknüpfungspunkte, die als Erzählimpulse geeignet sind, Begleitung zu gestalten.
Autor
Der Autor Heinrich Dickerhoff, Direktor der Katholischen Akademie Kardinal von Galen in Stapelfeld bei Cloppenburg, hat katholische Theologie, Geschichte und Judaistik studiert. Seit 2001 ist er auch Präsident der Europäischen Märchengesellschaft e.V. Seine Publikationsliste zum Themenbereich Märchen ist lang und umfasst sowohl Märchen verschiedener Kulturkreise, wie auch solche, die in der Katechese und Erwachsenenbildung als biblische Lebenskunde zum Einsatz kommen können. Sein Anliegen ist es, die Botschaft der Märchen verstehbar zu machen.
Das Buch ist gemeinschaftlich herausgegeben vom Osnabrücker Hospiz e.V. und dem Deutschen Kinderhospizverein e.V.
Entstehungshintergrund
In den Vorworten bringen die Herausgeber deutlich zum Ausdruck, welches Anliegen sie mit der gemeinsamen Publikation des Märchenbuches verfolgen. Ausgehend von ihren jeweils eigenen Erfahrungen mit Märchen in der Hospizarbeit, soll das damit verbundene Potenzial erschlossen werden, um so ihre lebensbegleitende Wirkung noch besser für die hospizliche Arbeit sichtbar werden zu lassen.
Aufbau und Inhalt
Nach kurzen einführenden Gedanken zum Wesen und zur möglichen Bedeutung von Märchen im Hospiz, erfolgt eine Gliederung des Buches in zwei Hauptteile:
Im Teil A werden in einer kleinen Anthologie ausgesuchter Märchen zu Tod, Trauer und zu möglichen Lebenswegen, mit dem Titel „Erdenkinder – Waisenkinder – Königskinder“ drei thematische Schwerpunkten in den Blick genommen:
Was Märchen vom Menschenleben wissen
Märchenhafte Wege zum glücklichen Leben
Märchen als und für Trauerbegleiter
Jeder dieser drei thematischen Schwerpunkte enthält fünf Märchen, die knapp erzählt und von jeweils einer Person interpretierend gedeutet werden. Dies geschieht sehr offen, im Sinne einer persönlichen Einschätzung und Bewertung. Es bleibt dem Leser überlassen, daraus mögliche Anknüpfungspunkte für eigene Gedanken oder Gesprächsimpulse zu ziehen.
Im anschließenden Teil B wird eine „kleine Märchenerzählkunde“ skizziert. Ausführungen zur Weisheit, die in Märchen zu finden ist, zu ihrer besonderen Sprache und zu ihrem spezifischen Klang münden in ein Beispiel, wie damit konkret gearbeitet werden kann. Ausgehend vom Text des Märchens von den Sterntalern erfolgt eine Art Gegenprobe bezüglich der sprachliche Merkmale und der Sinnbilder, wie sie eingangs in ihren Facetten und Möglichkeiten beschrieben wurden.
Das Buch schließt ab mit letzten theoretischen Überlegungen, wann und wie Märchen eine Hilfe sein können für
unmittelbar Trauernde
Menschen, die Trauernde begleiten
Menschen, die sich mit der eigenen unausweichlichen, aber nicht akuten Endlichkeit auseinandersetzen wollen.
Zielgruppe
Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der ambulanten und stationären Hospizarbeit, Pflegekräfte, pädagogische und therapeutische Berufsgruppen.
Diskussion
Die Eindringlichkeit der Bilder und die verschiedenartigen Gedanken in den interpretierenden Deutungsversuchen zu den einzelnen Märchen regen zu einer eigenen Auseinandersetzung an. Daraus ergeben sich vielfache Einsatzmöglichkeiten für die Anthologie im Bereich der Hospizarbeit und darin liegt ein eigener Wert des Buches. Zuweilen etwas schulmeisterlich kommt der zweite Teil daher, der den Anspruch, eine Märchenerzählkunde zu liefern, zwar im wesentlichen einlöst, dann aber widersprüchlich wird, wenn Empfehlungen für die praktische Umsetzung gegeben werden. Da entsteht dann der Eindruck, dass es nur so und nicht anders gehen und gelingen kann, mit Märchen im Hospiz zu arbeiten. Das steht im Widerspruch zum im Vorwort formulierten Anspruch, dass „… dieses Buch keinen Ratschlagkatalog zum Einsatz von Märchen im Hospiz geben …“ will. Insgesamt liefert die Publikation aber wichtige Anregungen und Einsichten zu einer sehr bildhaften und sensiblen Form, für die hospizliche Arbeit ein Sinn stiftendes Gesprächs- und Reflexionsangebot zu entwickeln.
Fazit
Das Buch schließt eine Lücke im inzwischen breit gefächerten Literaturangebot zur Hospizarbeit, weil es eine neue Perspektive eröffnet und die vielfältigen Möglichkeiten einer kreativen Basis der Kommunikation und des reflektierenden Austauschs gut vermittelt.
Rezensentin
Prof. Dr. Cornelia Kricheldorff
Katholische Hochschule Freiburg, Fachbereich Soziale Arbeit
Forschung und Lehre in angewandter Gerontologie, mit den inhaltlichen Schwerpunkten Geragogik, offene Altenarbeit, Bürgerschaftliches Engagement, neue Wohnformen, Soziale Arbeit in Pflege und Gesundheitswesen, Hospizarbeit.
https://www.socialnet.de/rezensionen/5686.php